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Peking
Chinas neue Mitte


Kleiner als Shanghai. Größer als Hongkong. Peking, eine Stadt mit 3.000-jähriger Tradition, pendelt aufregend zwischen Avantgarde, Revolutionsgarden, Punk und Künstler-Kommunen.

Quietschende Reifen. Düstere Blicke im Taxi-Rückspiegel. Draußen auf dem Stadtasphalt sind anscheinend nur ausgemachte Landeier unterwegs: Rotzige Limonadenverkäufer, schwitzende Melonenhändler und korpulente Schattenboxerinnen bevölkern die Pekinger Vorstadt. Aber kein Mensch, der dem ratlosen Taxifahrer helfen könnte. Dabei hatte ich als braver Fahrgast an zweckdienlichen Hinweisen nicht gespart. Der Adress-Code lautet 798 und das Zielgebiet Dashanzi Area East. Hier im Nordosten Pekings soll die alte Munitionsfabrik liegen. Jene 798 Factory, die in ihrem zweiten Frühling auf die Sprengkraft der Kunstszene setzt. Aber von Avantgarde ist im Moment noch nichts zu sehen. Stattdessen hält Dashanzi Ost eine kleine Privataufführung bereit. Die zum Wagen gewunkenen Taxifahrer-Kollegen sind die Darsteller. Durchs Wagenfenster sehe ich ihnen dabei zu: impulsives Kratzen am Kopf. Flache Maskengesichter mit gepressten Mundstrichen. Achselzucken in akkurater Qi-Gong-Qualität. Trotzdem kein tauglicher Plan.

Dabei ist 798 ganz nah. Das verrät ein Blick auf den Mix der Passanten, die dem Verlauf der dicken, ummantelten Fernwärmerohre Richtung Werkgelände folgen. Leute mit schwieligen Händen und den müden Gesichtern der frühindustriellen Arbeiterschaft bilden das Gros. Aber dazwischen finden sich auch andere Typen: Ein Mädchen flattert mit grellbunter Mode und zugespitzten Sportschuhen am leuchtenden Mauerwerk vorbei. Smarte Pekinger mit Nickelbrille und eleganten Aktentaschen schlendern ihr angeregt diskutierend hinterher. Auch der langhaarige Typ mit dem Kamerastativ über der tätowierten Schulter passt nicht zu Dashanzis Morgenschicht. Eher hat man das Gefühl, dass hier Models, Galeristen und Werbefotografen der Werksirene folgen - und so für die letzten Trendheuler der erwachenden City sorgen.

Zwischen den Blöcken des Werks wird die Ahnung zur Gewissheit. Dashanzis 798 Factory ist Pekings Antwort auf Amerikas SoHo und TriBeCa - ein hochaktives Epizentrum. Hier ein High-Tech-Mondtor aus coolem gebürsteten Stahl, da eine futuristische Glasfront im angewitterten Altbeton. Bereitwillig geöffnete Ateliertüren. Kreativität, wohin man blickt. Maler Zhang Xiaotao pinselt sich gerade seine eigenen Riesen-erdbeeren auf die raumhohe Leinwand. Keramiker Wang Wenhai zieht Mao einen tönernen Scheitel und lässt Genosse Marx mit Tränensäcken dabei zusehen. Jede Ecke hält neue Überraschungen bereit: Weiße Gliederpuppen räkeln sich in bourgeoisen Badewannen. Knallige Graffiti leuchten im besten Hinterhofstil. Traurig sehen blass gewordene Pappmaschee-Drachen den vorüberradelnden Arbeitern nach - Statisten im Garten der Fantasie auch sie.

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Text: Robert Haidinger
Foto: Visit China



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